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Kein Platz für Franzl

27.11.2023

Ratlos schaute Monika über den Rückspiegel in den großen Transportkorb auf der Rücksitzbank. Der kleine Rauhaardackel hatte sich traurig seufzend auf seiner Decke eingerollt. Jetzt schloss er gerade die Augen. So, als wenn er diese trostlose Welt einfach nicht mehr sehen wollte. 

Monika konnte es ihm nachfühlen. Die freundliche Frau Swoboda aus der Wohnung über ihr goss immer ihre Blumen, wenn sie selber verreist war. Das war ganz praktisch. Die Blumen waren hinterher in besserem Zustand als vorher.

Ausnahmsweise war es aber nun die ältere Nachbarin gewesen, die eine zweitägige Busreise machen wollte. Deshalb hatte sie Monika gefragt, ob diese in der Zeit auf ihren Franzl aufpassen würde.

Eigentlich wollte sie das nicht. Sie hatte überhaupt keine Lust, vor und nach der Arbeit noch mit dem Hund Gassi zu gehen. Sie wollte keine ekligen Hinterlassenschaften aufklauben und im Gackisackerl so lange mit sich rumtragen, bis endlich der nächste dafür bestimmte Abfalleimer auftauchte. Sie wollte auch kein übelriechendes Hundefutter in einen Napf einfüllen. Nein, zu all dem hatte sie gar keine Lust.

Aber erstens hatte sie noch nie gut nein sagen können. Und zweitens war da ja noch die liebevolle Blumenpflege. Also hatte sie widerstrebend zugesagt. Die alte Frau hatte doch sonst niemanden. Und nun war die nette Nachbarin auf dieser Reise gestorben. Völlig überraschend. Das Busunternehmen hatte Monika informiert, weil ihre Telefonnummer im Notizbuch von Frau Swoboda gestanden hatte. Ob sie bitte die Habseligkeiten der Verstorbenen abholen könnte, die sie dabei hatte. Weil es sonst anscheinend keine Angehörigen gab.

Vielleicht könnte sie den Hund schon mal ins Tierheim bringen?

Natürlich konnte sie. Was blieb ihr auch anderes übrig? Um die Wohnungsauflösung würde sich ein in England lebender Großneffe kümmern. Wenigstens etwas. Aber den Hund konnte er in London wirklich nicht gebrauchen. Überhaupt könne er erst in zwei Wochen kommen und sich um alles kümmern. Vielleicht könnte sie den Hund schon mal ins Tierheim bringen?

Wieder schaute Monika in den Rückspiegel. Franzl winselte leise im Schlaf. Seine rechte Vorderpfote zuckte. Wahrscheinlich träumte er. Monika hatte kein gutes Gefühl dabei, den Augapfel der Nachbarin ins Tierheim zu bringen. Aber sie konnte den Hund auf keinen Fall aufnehmen, schließlich arbeitete sie den ganzen Tag und war auf Viecher einfach nicht eingerichtet. Er wäre den ganzen Tag alleine. Ein Hund kostete sicher einen Haufen Geld. Steuer, Versicherung, Futter, Tierarzt, da kam schon einiges zusammen. Ihre gepflegte kleine Wohnung würde nach Hund riechen. Und immer war man angebunden. Auf ihre Radltouren am Wochenende konnte sie den kleinen Dackel auch nicht mitnehmen. Er war zu alt und seine Beine waren eindeutig zu kurz.

Sie musste lächeln. Eigentlich waren diese kurzen Dackelbeinchen, die stets so eifrig dahertrappelten, schon sehr drollig. Aber es nützte alles nichts. Sie konnte ihn nicht nehmen.

Deshalb brachte sie ihn jetzt gleich zum Tierheim, dann hatte sie es hinter sich. Der Großneffe konnte ihn dann ja dort abholen. Insgeheim zweifelte sie daran, dass er das tatsächlich machen würde. Aber das war nicht ihre Sache. Da sollte sich das Tierheim drumkümmern. Es war Samstagnachmittag, die frühe Winterdämmerung setzte bereits ein. Einige nasse Schneeflocken mischten sich in den Regen. Es wäre schön, wenn wirklich Schnee fallen würde. Schließlich war morgen Heiligabend.

Als sie das Tierheim erreicht hatte, war es schon beinahe dunkel. Seufzend stieg sie aus und öffnete die hintere Tür.

„Na komm, Franzl, bringen wir es hinter uns.“ Sie strich dem schon etwas betagten Hund übers Fell. Er öffnete blinzelnd die Augen und schaute sie an, bevor er sich aufsetzte und schwach mit dem Schwanz auf das Polster klopfte. „Komm, spring raus, hopp!“

Etwas mühsam kam er auf die Beine und schaute sie mit schiefgelegtem Kopf an, ohne Anstalten zu machen, der Aufforderung nachzukommen.

„Ist dir das zu hoch? Na gut, dann hebe ich dich eben raus.“ Sie setzte ihn vorsichtig auf den Boden. Die Leine hatte sie vergessen, aber die war gar nicht nötig, Franzl ging immer brav bei Fuß.

„Jetzt gehen wir da vor zu dem Haus, schau. Da sind ganz viele andere Hunde drin, du findest sicher schnell einen Spielkameraden.“

Monika hörte sich nicht einmal für sich selber überzeugend an. Franzls Hundeohren hatten ein feines Gespür dafür, dass etwas nicht stimmte. Ein fragender Blick aus großen, traurigen Hundeaugen. Sie fühlte sich schuldig. Aber es half nichts. Die Stimme der Vernunft siegte. Sie setzte sich in Bewegung. Franzl folgte ihr langsam. Sie klingelte. Vielstimmiges lautes Gekläff antwortete ihr. Es dauerte eine Weile, bis ein junges Mädchen öffnete. Wahrscheinlich eine der vielen Ehrenamtlichen.

Monika erklärte, warum sie da war. Es täte ihr ja auch leid, aber es ginge nun mal nicht, es wäre sicher auch nicht für lange, der Großneffe würde bestimmt kommen, alles Weitere läge in dessen Händen, der wäre der Verantwortliche. Sie konnte gar nicht mehr aufhören zu reden, so, als müsse sie sich selber beweisen, dass sie jedes Recht dazu hatte, den Hund hier abzugeben. Das junge Mädchen war sehr verständnisvoll. „Ja, ich verstehe das Problem. Wir werden uns schon um den Kleinen kümmern. Aber wo ist er denn? Haben Sie ihn noch im Auto?“

Verwirrt sah Monika sich um. „Franzl?“ Panik stieg in ihr auf. „Eben war er doch noch da. Erläuft sonst nie weg-glaube ich. Ich kenne mich mit ihm ja nicht so aus, er gehört ja nicht mir ...“ Sie lief die paar Schritte zum Auto zurück. Vielleicht war er zurückgetrabt?

„Hier ist er auch nicht. Wo kann er denn nur sein? Franzl! Franzl!“ Ihre Stimme wurde immer lauter. „Das ist jetzt dumm. Ich würde Ihnen zwar gerne suchen helfen, aber ich bin gerade ganz alleine mit den Tieren und habe noch so viel zu tun, ich kann leider nicht.“ Bedauernd zog die Jugendliche die Schultern hoch.

Monika hörte schon gar nicht mehr richtig hin. Hektisch irrte ihr Blick in alle Richtungen. Es war dunkel im Auenwald. Wie sollte sie zwischen all den Bäumen und Büschen in der Finsternis einen kleinen, dunkelhaarigen Hund finden? Welchen Weg sollte sie einschlagen? Oh Gott!

Sie war nicht gläubig. Schließlich war sie eine vernünftige Frau des 21. Jahrhunderts. Sie wusste, dass Beten nichts bringen würde. Aber jetzt wäre es schon sehr schön gewesen, wenn es wirklich so etwas wie ein Christkind geben würde, an das sie sich hätte wenden können. Wo doch morgen Weihnachten war.

Irgendwie bewirkte gerade diese Tatsache, dass sie sich noch viel schlechter fühlte. Ein kleiner, einsamer, trauernder Hund zu Weihnachten ganz alleine im großen Wald. Was, wenn er in die Fänge von Wölfen oder Wildschweinen geriet? Energisch rief sie sich zur Ordnung. Dies hier war die Saalach-Au, da gab es solche Tiere nicht. Aber trotzdem. Was konnte einem alten, überforderten Hund nicht alles passieren?

Was, wenn er in die Fänge von Wölfen oder Wildschweinen geriet?

Sie suchte und suchte. In der Dunkelheit hier rumzurennen war ihr selber nicht geheuer. Der Schneeregen durchtränkte ihre Kleidung. Eine Mütze hatte sie nicht dabei, auch keine Handschuhe. Sie war darauf nicht vorbereitet gewesen. Die glatten Sohlen ihrer Lederschuhe waren denkbar ungeeignet für solche Nachtwanderungen, mehrfach rutschte sie aus, einmal wäre sie beinahe gefallen. Aber nirgendwo war ein Zeichen von Franzl zu entdecken.

Monika war den Tränen nah. Sie war schuld daran, wenn er für immer verschwunden war. Wie war sie überhaupt auf den Gedanken gekommen, den kleinen Kerl im Tierheim zu lassen? Wann war sie so herzlos geworden? Was war nur los mit ihr?

Schließlich blieb sie stehen. Das Umherirren war völlig sinnlos. So würde sie Franzl niemals finden. Ihre Füße waren feuchte Eisklumpen, sie fror fürchterlich in den nassen Klamotten. Wie von alleine falteten sich ihre klammen Finger, als sie ein Stoßgebet gen Himmel schickte:

„Bitte lass mich ihn finden. Ich mach's auch wieder gut. Ich geb ihn auch nicht mehr her, er darf bei mir bleiben. Aber lass mich ihn finden. Weil doch morgen Weihnachten ist...!“

Während sie widerstrebend zum Auto stapfte, schüttelte sie peinlich berührt den Kopf über sich selber. Sie benahm sich wirklich wie ein kleines Kind. Plötzlich an himmlische Mächte zu appellieren, nur weil sie die Realität nicht akzeptieren wollte. Der Hund war weg und sie würde mit ihrer Schuld leben müssen. So war es eben. Ob nun morgen Heiligabend war oder nicht.

Als sie in der Nähe ihrer Wohnung parkte, befiel sie ein Gedanke. Hunde waren doch in der Lage, selbst aus großer Entfernung den Weg nach Hause zu finden. Vielleicht saß Franzl schon wartend vor der Haustür?

Aber nein, der Eingangsbereich war leer. leer. Kein Bellen, kein Schwanzwedeln, nichts. Enttäuscht und müde ging sie die Treppen hoch, jeder Schritt fiel ihr schwer. Auch die schwache Hoffnung, ihn vor der Wohnungstür zu finden, trog. Vor der Tür lag nur ein Prospekt mit Tipps für Weihnachtsgeschenke in letzter Minute. Traurig steckte sie den Schlüssel ins Schloss. Sie hatte im Moment nur einen Wunsch. Aber der würde nicht in Erfüllung gehen. Ihr Gebet war nicht erhört worden. Warum auch, wo sie doch eh nicht an Gott glaubte.

Hinter ihr öffnete sich die Tür zur Nachbarwohnung. „Ach, Monika, wie gut, dass ich dich treffe. Schau mal, wen ich hier habe. Du hast ihn sicher schon vermisst? Er saß eben vor der Haustür und sah ganz verfroren aus. Ich weiß ja, dass du ihn aufgenommen hast, deshalb habe ich ihn mit reingenommen. Das ist schon sehr lieb von dir, dass du jetzt für ihn sorgst. Da wäre die arme Frau Swoboda froh, wenn sie das wüsste.“

Dreckig und nass ließ sie sich auf die Matte vor ihrer Tür sinken.

Monika hörte gar nicht zu, was ihre freundliche Nachbarin erzählte. Sie hatte nur Augen für Franzl, der leise winselnd zu ihr hoch schaute. Dreckig und nass, wie sie war, ließ sie sich auf die Matte vor ihrer Tür sinken und nahm den Dackel auf den Schoß. Wieder und wieder strich sie ihm mit beiden Händen durch das struppige Fell, bis er ihr die Finger leckte und endlich fröhlich zu wedeln begann. Unendlich erleichtert schloss sie ihn in die Arme.

„Du Lauser“, lachte sie, als Franzl ihr liebevoll die feuchte Nase ins Ohr stupste. „Danke“, murmelte sie dann. Sie flüsterte es ganz leise, aber das machte nichts. Derjenige, dem es galt, hörte es sehr gut. So, wie er alles vernahm, was wichtig war. Selbst dann, wenn man nicht an ihn glaubte. Gerade jetzt. Wo doch morgen Weihnachten war!